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Ich führe ein unscheinbares Leben. Von außen mag es fast langweilig erscheinen. Und auch die Innensicht gibt nicht viel mehr her. Jedenfalls bewege ich mich kontiunierlich auf immer gleichen Bahnen und wie das so ist, trifft man auf diesen Bahnen auch immer auf dieselben Menschen. Überraschungen und Verrücktheiten hat man nicht zu befürchten.

Auf meiner täglichen Runde zur Grundbedürfnisbefriedigung – Geld verdienen und Nahrungsbeschaffung – treffe ich seit einiger Zeit einen Menschen. Genauer gesagt ist es ein Mann. Ein noch nicht alter aber auch nicht mehr junger Mann. Er wird um die vierzig sein. Er sitzt jeden Morgen an derselben Stelle, zur selben Zeit. Er scheint auf irgend etwas zu warten. Möglicherweise ist er verabredet. Es verrät ihn dabei aber keine Aufregung oder Vorfreude. Er sitzt einfach nur da, unter einer Brücke, auf einem ob der morgendlichen Frühe noch angeketteten Stuhl, der zum Außenbereich eines Restaurants gehört. Er hat sich da nicht unbedingt ein schönes Plätzchen gesucht. Aber er scheint vollkommen ruhig und zufrieden zu sein.

Falls er wartet, tut er das mit einer ausgesprochenen Gelassenheit und Hingabe, die mir bisweilen abgeht, vor allem beim warten. In mir paart sich beinahe pedantische Pünktlichkeit mit Ungeduld, was bisweilen zu beinahe physischen Beschwerden angesichts des Wartens oder einer unvorhergesehenen Verzögerung führt.

Nicht so bei unserem sanften Riesen. Ich nenne ihn den sanften Riesen, weil er, obgleich von kräftiger Statur, mit seinem jugendlichen Mittelscheitel und einem derart gutmütigen Gesichtsausdruck, der nur schwer die Balance zwischen Gelassenheit, Zufriedenheit, Gleichgültigkeit und Einfältigkeit halten kann, wie ein sanfter Riese aussieht. Ein grundgutmütiger, etwas unbeholfener, tapsiger, grober und doch zärtlich sanfter Riese, der mit seinen riesenhaften Händen kleinen, aus dem Nest gefallenen Vögeln zurück in die Wärme an der mütterlichen Brust hilft.

Verstärkt wird der Eindruck dadurch, dass er ganz dem jugendlichen Charme folgend eine Jeansjacke, bei wärmerer Witterung auch gerne eine Jeansweste trägt. Darunter Blitzen dann allerdings Tatoos hervor, die in ihrer Ästhetik an einsame Tage auf See oder Nächte im Gefängnis erinnern. So jedenfalls in meiner Fantasie, die dadurch fasziniert angeregt wird.

Was genau dieser Mensch ist oder macht, das weiß ich nicht. Er sitzt jeden Morgen einfach nur da. Zufällig zur selben Zeit, zu der ich auch dort vorbeikomme. Sei es sein Glück oder Pech, dass ich seine äußere Erscheinung zum Anlass nehme, um mir über ihn Gedanken zu machen und ihn zu meinem sanften Riesen mache. So komme ich ihm nahe, glaube ihn zu kennen und würde im Falle eines unvorhergesehenen Unglücks oder Verbrechens seine Hilfsbereitschaft und Freundschaft voraussetzen. Ein völlig fremder Freund, den ich jeden Morgen sehe.

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