#36

„Jens, Jens, Jensi. Du hast ein ernsthaftes Problem, fürchte ich.“ Es klingt bedrohlicher als es ist, nehme ich an, hoffe ich. „Du lebst in dieser Blase. Ist dir das mal aufgefallen?“ Es klingt bedrohlicher als es ist, definitiv.

Was folgt, wird der übliche belehrende Sermon eines Menschen sein, der sich selbst vollkommen gewiss ist und sich keinerlei Anfechtungen seiner Person ausgesetzt sieht und in seinen Grundfesten unerschütterlich steht. Meinungen und Überzeugungen leistet er sich nur, soweit er sie nicht verteidigen muss. Denn sonst käme er womöglich in die Verlegenheit, sie in Frage stellen oder revidieren zu müssen.

Zugegebenermaßen ist es ein nicht trivialer Prozess sich eine Meinung zu bilden. Das nicht triviale dabei ist es, die möglichst unabhängige Information zu bekommen, um sich tatsächlich eine Meinung bilden zu können. Also eine Meinung die auf Fakten oder eigenen Beaobachtungen beruht. Eine Meinung die abgewogen und ausgewogen ist. Wobei der Anspruch an Meinung eigentlich ein anderer ist. Abgewogen und ausgewogen auf Grund unabhängiger Information klingt nach einer objektiven Kategorie. Das aber ist Meinung eben gerade nicht. Die Vielfalt an Meinungen zu unterschiedlichen Themen ist geradezu unendlich. Man kann eine Meinung vertreten, die einer fakten basierten Argumentation nicht unbedingt stand hält.

Die Frage ist dann: Wie gehe ich damit um, wenn jemand nicht meine Meinung vertritt? Roxy Ramirez befördert das, was er für seine Meinung hält, mit einem Lächeln. Und wenn dies nicht verfängt, bleibt er verbindlich, diplomatisch, ohne dass dies allerdings etwas an seiner Meinung ändern würde. (Gegenüber Freunden. Es gibt andere Fälle, in denen er undiplomatischer ist, und sich anderer Methoden bedient. Das ist dann aber eher geschäftlicher Natur, sozusagen dienstlich.) Was also wirft er mir vor? Ich stehe zu dem, was ich denke und kämpfe dafür, wenn es notwendig ist.

„Falsch. Du bist ein Angsthase. Du stehst zu dem, was deine Blase dir zugesteht. Du lebst in deiner algorythmus-basierten Online-Welt und bekommst gefiltert das, was du und deinesgleichen gerne haben, wo sie sich wiederfinden, was sie vereint, was sie beschützt, gegen die böse Welt da draußen. Eine echte Wohlfühlblase.“

Mit seiner im Vorbeigehen aufgeschnappten und reduziert wiedergegebenen Generalkritik an virtuellen Kommunities und Macht der Algorythmen landet Roxy Ramirez einen schnellen Treffer. Was aber hat er vorzuweisen? Auch im realen Leben ist man eingebunden in eine Gemeinschaft, die das Denken und die Meinung beeinflusst. Das Problem ist nicht die Meinung. Das Problem ist eine feste Meinung. Meinung mag nicht objektiv sein. Aber Meinung muss zwingend veränderbar sein. Sonst ist es weniger Meinung als Starrsinn, Boshaftigkeit oder Ideologie.

Wenn es nur eine Meinung gäbe, die durch keine andere Meinung herausgefordert werden könnte, wäre es keine Meinung, sondern im besten Fall die Wahrheit. Im schlimmsten Fall Diktatur. Hierin liegt das Problem aller Diskussionen: Meinungen nicht gelten zu lassen. Andere Meinungen nicht zuzulassen. Nicht der falschen Meinungen zu sein ist das Problem. Der tatsächliche Irrweg ist es, andere Meinungen zu negieren. Verlockend und gefährlich wird es, weil dieser Irrweg natürlich weniger steinig ist, als die Auseinandersetzung mit anderen Meinungen (noch dazu wenn man unterstellt, Algorythmen unterstützten diesen Weg). Ich bin mir dessen bewusst. Bei Roxy Ramirez bin ich mir dessen nicht so sicher. Aber sein Instinkt rettet ihn auch dieses Mal.